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Ascher Zeitung
jährlich ein tschechisches Buch. In der Zeit des Aufblühens
der tschechischen Literatur gab es etwa 16 Neuerscheinungen
im Jahr. Nach der Schlacht auf dem Weißen Berg sank
die Produktion auf 11 Bücher im Jahr. In der Renaissance-
Periode betrug sie ungefähr 46 Werke. Erst nach dem
Jahr 1843 setzte eine gesteigerte Verlagstätigkeit ein. In
der Zeit der Gründung des Verbandes der tschechischen
Buchhändler und Verleger (vor 50 Jahren) erreichte die
Bücherproduktion die Ziffer 1000. Das zweite Tausend
wurde erst im Jahr 1907 erreicht. Knapp vor dem
Kriege erschienen jährlich rund 2300 neue tschechische Bücher.
In den letzten Jahren erscheinen jährlich 4500 Bücher-
Neuheiten. In Prag allein bestehen heute viel mehr als
100 Verlags- und Buchhandelsfirmen, die die Verbreitung
der tschechischen Bücher besorgen.
Die ausgepfiffene „Traviata“. Seit Langem
kann man auf der Opernbühne von einer Verdi-Renaissance
sprechen. Nach der Statistik der Berliner Staatsoper ist
in den letzten Jahren die Zahl der Wagner-Aufführungen
bedeutend zurückgegangen, während die der Verdi-Auf-
führungen beinahe um 50 Prozent gestiegen ist. Die
Erstaufführung der bisher unbekannten Oper Verdis
„Simone Boccanegra“ und die Neueinstudierung der
„Traviata“ haben in Berlin größten Erfolg gehabt. Bei
der Uraufführung dieser Oper, die heute zu den meist-
gespielten der Welt gehört, und die am 6. März 1853
im Jenice-Theater zu Venedig aus der Taufe gehoben
wurde, stand das Publikum dem Werk noch ganz ver-
ständnislos gegenüber. Die „Traviata“ erlebte sogar einen
glänzenden Durchfall. Der Tenor war heiser, und die
Sängerin der Violelta, Signora Salvini Donatelli, gefiel
dem Publikum nicht, weil sie den spottlustigen Benezianern
allzu dick erschien. Im letzten Akt ereignete sich ein
peinlicher Zwischenfall. Nach den Worten des Arztes:
„Nur kurze Stunden noch wird ihr Leben dauern“ rief
eine Stimme von der Galerie: „Siehst Du denn nicht,
daß Deine Kranke rund und dick wie eine Zervelatwurst
ist?“ Das Publikum brach in ein schallendes Gelächter
aus. Die rührende Sterbeszene erweckte ungezügelte Heiter-
keit — das Publikum schüttelte sich vor Lachen. Am
nächsten Tag schrieb Verdi an einen Freund: „Traviata“
erlebte gestern Abend ein Fiasko. Ist es meine Schuld
oder die der Sänger? Die Zeit wird entscheiden.“ Die
Zeit hat entschieden.
ihren Initiator aus der Abgeschiedenheit des Kreml
ins helle Licht des Tages gerückt, den eigentlichen
Herrscher Rußlands, der mit Fanatismus und un-
beirrbarer Energie alle die Bindungen löst, die Ruß-
land mit der Kultur des Westens und seiner eigenen
Vergangenheit verknüpfen. Es ist schon viel über
Stalins abenteuerlichen Aufstieg geschrieben worden;
nur wenig bekannt aber ist, wie er heute lebt,
wie er das Steuer des Staatsschiffes führt, unbe-
kannt sino auch seine persönlichen Verhältnisse und
Bindungen. Was ist das für ein Mensch, der alle
Macht in Händen hält, von der er in den Jahr-
zehnten seiner unterirdischen revolutionären Tätig-
keit nicht einmal zu träumen wagte? Grigori Besse-
dowski, der vielgenannte Botschaftsrat der Pariser
Sowjetvertretung, der sich im vergangenen Jahr mit
einem beispiellosen Eklat von den Sowjets lossagte,
schildert in einer ausländischen Zeitung die Persön-
keit Stalins aus genauer, persönlicher Kenntnis, und
seine Ausführungen verdienen umso mehr Beachtung,
als er seinen ehemaligen Herrn und Gebieter nicht
mit dem Haß der Renegaten abtut, sondern ihm
durchaus Gerechtigkeit widerfahren läßt. Das Polit-
bureau wird nicht mehr, wie zu Lenins Zeiten, kolle-
gial geleitet, sondern diese oberste Instanz, die sowohl
der kommunistischen Internationale die Direktiven
gibt, als auch die Politik des Rates der Volkskom-
missare bestimmt, untersteht jetzt einzig und allein
dem Machtspruch Stalins, dessen getreueste Mit-
arbeiter Molotow und Kaganowitsch sind. Das Polit-
bureau besteht formell deshalb nur noch weiter, weil
es die Parteistatuten so bestimmen; Stalins Dik-
taturgewalt ist so unbeschränkt, wie es
zu Lenins Zeiten nicht möglich gewesen
wäre.
Was die Parteigenossen an Stalin fesselt, ist sein
unbeugsamer Wille, der Glaube an seine organisa-
torischen Fähigkeiten, die Erkenntnis, daß ohne ihn
alles zusammenbrechen würde, und schließlicha
Angst. Stalin bewahrt in seinem Schreibtisch die
Personolakten über alle Parteigenossen von Bedeutung
auf. Sie bleiben hinter Verschluß, wenn der Parte-
genosse gefügig ist; sollte er jedoch wagen, zu wider-
sprechen, dann werden dem Opponenten seine alter
Sünden vorgehalten und Zwangsmaßnahmer
wegen Unzuverrlässigkeit angedroht. In schlimmerer
Fällen wird das Parteigericht angerufen, und
folgen Ausschluß, Entfernung aus dem Amt,
bannung oder gar das „höchste Strafmaß“.
schweigt man lieber. Der Grusier Stalin, der
starkem kaukasischen Akzent spricht, ist ein sch
Redner. Er liest seine Reden ab, die dennoch ihrer
Eindruck nicht verfehlen, weil der Ton, in
sie vorgetragen werden, und die Gesten, die sie be-
gleiten, von unfehlbarer Wirkung sind. Bei den
Sitzungen im Politbureau gebraucht Stalin Krof,
ausdrücke und Flüche derbster Art, doch wird die
diesen Debatten streng auf den Parteirang geachte.
Außer dem Diktator wagt vielleicht hin und
nur Woroschilow, der Oberbefehlshaber der
Armee, zu fluchen. Die andern tun es
Bessedowski — erst, wenn sich die Tür hinter
geschlossen hat.
Stalin wohnt in dem Moskauer Vorort
in demselben Haus, in dem Lenin seine letzten;
verbrachte. Er lebt sehr zurückgezogen und vo
Außenwelt völlig abgeschlossen. Persönliche Bezie
gen erhält er nur mit wenigen, mit Kaganowitich.
Mikajan und Woroschilow. Eine Paſsion
Diktator; er liebt Unterhaltungen mit der Ju
und lädt gern Komsomolzen, Jungkommunisten, zu
sich ein. Gelegentlich veranstaltet ue det
genannten Freunde eine Zecherei, doch das isſt ſehr
selten und kommt nicht öfter als Sreie oder vier
mal im Jahre vor. Stalin ist kein Kartenspieler;
er liest viel und ist bestrebt, sich weiter
Dienstag. 25. Jeber!
L.C. Smnäth-Schreibmaschînen
ständig lagernd bei
Ernst Schärtel, Mechaniker, Asch, Tel. 211.
Stalin, aus der Nühe gesehen.
Unbekanntes vom wirklichen Herrscher Rußlands.
Wie kaum ein Ereignis der jüngsten Geschichte
Rußlands hat die scharfe antikirchliche Politik der
Sowjets im übrigen Europa die Gegner des neuen
Staates auf den Plan gerufen. Sie hat zugleich
Wetterleuchten um Gallspach.
Es soll Gegenstand einer
Ministerkonferenz werden.
Wien, 25. Feber. Der „Morgen“ meldet zu dem
Zeileisrummel, daß das zuständige Ministerium für soziale
Verwaltung bereits angeregt hat, daß eine Ministerlon-
ferenz sich mit der Angelegenheit befasse.
In Wiener Aerztekreisen ist gleichfalls eine An-
regung entstanden, die dem Ministerium vorgelegt werden
soll, eine Aerztékommission vorzuschlagen, die nach
Gallsrach reist und im Institute Zeileis' dessen Diagnosen
und Heilmethoden überprüft. Die Montagsblätter haben
Sonderberichterstatter nach Gallspach entsendet, die sich
dort Kuren unterworfen haben und aus deren
Schilderungen hervorgeht, daß es sich bei den Zauber-
heilungen doch um mehr oder weniger suggestive Wit-
kung' handelt.
Der Ort Gallspach selbst ist förmlich verzaubert.
Während noch vor kurzem dort ein Hugdratmeter Gru
2 Schilling kostete, hat man jetzt darür 35 bis
Schilling zu bezahlen. 1600 Patienten befinden
täglich in Gallspach und den umliegenden Orten.
Protektion über den Ort hat die gräfliche
hun übernommen. Der ehemalige Vnhtuchat Grf Em-
merich Thun ist Besitzer eines der größten
Georg Thun, sein Bruder, hat vor kurzem gl
ein Hotel gegenüber dem Jeileisinstitut“röfne,
die Schwester der beiden Grafen ist Direktrize
Wunderdoktors. Das
Einkommen Zeileis wird auf rund 15.000 Schilling
pro Tag geschätzt.
geben: seine Leidenschaft für eine exotische Dame
von einigermaßen geheimnisvoller, aber wie es heißt,
fürstlicher Herkunft.“
„Mein Mann — will — von mir — — ge-
schieden sein?“
„Allerdings — und zwar durch Ihre Schuld.
Heute abend sollte der Schlag fallen. Es war alles
vorbereitet, daß ich Sie vor Zeugen kompromittiere.“
Valerie schlug die Hände vors Gesicht und brach
in Tränen aus.
„Es ist grausam, was ich Ihnen da enthülle.
Nicht gerne bereite ich Ihnen diesen Schmerz. Aber
vor mir gerettet, sollen Sie nicht blind einem neuen
Anschlag zum Opfer fallen.“
Langsam ließ Valerie die Hände vom Gesicht
sinken.
„Ich habe meines Mannes Erwartungen nicht er-
füllt“, sagte sie leise, „keine seiner Erwartungen.
Darum möchte er frei werden von mir. Das ist
sein Recht. Ich grolle ihm deswegen nicht. Aber
— warum hat er nicht mir seinen Wunsch offen
ausgesprochen? — Warum mit solch gemeinem schäd-
lichen Komplott mich umgarnen? Warum mich be-
schimpsen wollen?“
„Das liegt an der etwas verwickelten psycholo-
gischen Einstellung Ihres Mannes. Sein Ehrgeiz
streift schon ans Pathologische. Er fürchtet, daß
eine Ehescheidung ohne schwerwiegenden Grund ihm
höheren Ortes verdacht werden, ihn hindern könne,
die beherrschende Stellung zu erlangen, die er bren-
nend wünscht. Aus diesem Grunde sucht er, der
Schuldige, die Schuld Ihnen zuzuschieben.“
Die Tränen in Valeries Augen waren ver-
siegt. Mit dunklem Blick starrte sie ins Leere.
„Vergeltung“, murmelte sie halb unbewußt vor
sich hin. „Gerechte Vergeltung. Verdienter Schande
entfloh ich durch ein Verbrechen, — unverdiente
trifft mich dafür.“
Wollin stand auf.
„Ich habe gesagt, was ich Ihnen zu sagen
schuldig war, gnädige Frau. In Ihrer Hand liegt
nun Ihr Schicksal. — Haben Sie Dank, heißen
Dank für die glücklichen, reinen Stunden, die ich
mit Ihnen verleben durfte, die mich wieder zu einem
besseren Menschen gemacht haben. Was das Leben
an Frieden und Freude hat, wünsche ich auf Ihr
Haupt. Leben Sie wohl.“
Valerie hatte, niedergeschmettert von den furcht-
baren Enthüllungen, den Mann an ihrer Seite fast
vergessen. Jetzt schrak sie aus ihrer eigensüchtigen
Versunkenheit.
„Und Sie? — Sie selbst? — Was wird aus
Ihnen? Wenn Sie Ihren Auftrag nicht erfüllen —-“
„Ja, dann werd' ich nicht bezahlt.“
„Und dann werden Sie zu dem furchtbaren
Leben zurückkehren, das Sie mir geschildert haben?!“
Fedor von Wollin warf den Kopf in den
Nacken.“
„Nein, gnädige Frau, das werd' ich nicht.“
„— Aber ohne Mittel auszuwandern — ohne
Geld — —“
„Es gibt Orte, gnädige Frau, wo man kein Geld
braucht. Sorgen Sie sich nicht um einen Elenden, der
nur Ihre Verachtung verdient.“
„Nein, nein, nein!“ Sie legte die Hand auf
seinen Arm, sie hielt ihn fest. „Ich verachte Sie
nicht, Fedor. Ich hab' kein Recht, irgend einen Ir-
renden zu verachten. Und Sie sind von denen, für
die es Rettung gibt. Kein unsühnbarer Frevel lastet
auf Ihnen. Für den großen Dank, den ich Ihnen
schulde, gönnen Sie mir das Glück, Ihnen zu helfen.
Ich besitze zwar kein Barvermögen —
„Gnädige Frau, — was ich für Sie getan habe,
das tat ich, weil mich's freute. Bezahlung dafür
nehm' ich nicht.“
Er versuchte sich loszureißen. Sie klammerte
sich an ihn.
„Bezahlung! — Wer redet von Bezahlung?!
Sie haben als Freund an mir gehandelt. Warum
soll denn nicht ich als Freundin an Ihnen handeln
dürfen? — Wenn nicht um Ihretwillen, — um
meiner selbst willen, — stoßen Sie meine Hilfe nicht
zurück. Auf meinem Gewissen lastet das Verderbei
eintesMenschen. Gönnen Sie mir die Möglichkeit,
r'Sie
einen Teil meiner furchtbaren Schuld zu sühnen,
indem ich Sie errette. Da! Da! Da!
löste die Perlenkette von ihrem Hals, die E
ert
von ihren Armen. „Nehmen Sie! Der
dieses Schmuckes beträgt mehr, als mein
Ihnen verhießen hat. Ich hab' ihn von ihm.
teures Andenken kann er mir seit heute nicht
sein, das begreifen Sie. Nehmen Sie! Machen
das tote Geschmeide zu Geld. Reisen Sie.
Sie gleich morgen. Nehmen Sie das erste
das den Hafen verläßt, und schaffen Sie
neues, ein gesegnetes Leben in einer neuen
Einen Augenblick noch zögerte Wollin.
draußen schmetterte die Musir knstige Messen, draußer
fluteten Licht und Freude, winkte das warme, lachende
Leben, das Leben, das er liebte. Warum sollte
nicht als Folge einer guten Tai die Rettung neh
men, die er als Lohn für schnödeste Gemeinheit
gierig errafft haben würde? Erhobenen Hauptes.
reinen Gewissens würde er leben dürfen, lieb
Da beugte er sich auf die Hand, die die
hielt und preßte einen heißen Kuß darauf.
„Hab' Dank, mein guter Engel. Ich
Dein Geschenk, — als Leihgut nehm' ich's.
mag ich's, zahl' ich's zurück. Vermag ich
inag ein Höherer Dirs vergelten.“
Er ließ den Schatz in seine Tasche!
schlug den Vorhang zurück und schritt aus den
Den Kopf im Nacken, hochmütig aufgerich
schritt er zwischen Ränkels verwirrten und enttäusch-
ten Abgesandten durch zum Ausgang des Saales.
Im Zelteingang unter dem emporgeschlag
Vorhang stand Valerie maskenlos und schaute
nach, ihre Umgebung und sich selbst vergessend in
Wirbel von Gefühlen und Gedanken, die ihre
gewordene Seele von Neuem in sich überschlagt
Wellen branden machten.
(Fortsetzung folgt.)
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