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29. August 1899
„Karlsbader Badeblatt und Wochenblatt“ Nr. 196
Seite 9
Eger, 28. August. Nach der Procession an-
lässlich des gestrigen Vincenzfestes, womit das Eger-
land in feierlicher Weise das Erntefest begeht, fand
um 11 Uhr Vormittag eine Demonstration statt, an
welcher sich unter Führung des Abgeordneten Iro,
Stadträthe, Stadtverordnete und mehrere Hundert
Bürger betheiligten. Vor der Bezirkshauptmann-
schaft wurde durch laute Rufe demonstriert und die
„Wacht am Rhein“ gesungen. Beim Kaiser-Josefs-
Monumente hielt Abg. Jro eine Ansprache, dann
zerstreute sich der Zug. Die Polizei fand keinen
Anlaſs einzuschreiten.
Nachod, 28. August. In der Doctor'schen
Fabrik wurden von den 22 (ntlasseneu Arbeitern
vier verheiratete wieder aufgenommen und ihnen
der für 14 Tage gegebene Lohn belassen. Die
zwei von den Strikenden misshandelten Weberinnen
sind in der Doctor'schen Fabrik nicht in Arbeit ge-
treten aus Furcht vor weiteren Misshandlungen.
Die meisten entlossenen Arbeiter sind bereits in
anderen Fabriken untergebracht.
Wien, 28 August. Der österreichisch ungar-
ische Altaché in Paris Oberst Schneider wird noch
vor der Abreise des Kaisers aus Ischl zu den
Manövern in Reichstadt von diesem in besonderer
Audienz empfangen werden.
Wien, 28. August. Der Chef des General-
stabes F.-Z.-M. Freiherr von Beck ist gestern
abends zu den Manövern nach Reichstadt abgereist.
Salzburg, 28. August. Gestern fand in St.
Coloman die feierliche Enthüllung des zum An-
denken an Weiland Ihre Majestät die Kaiserin
Elisabeth errichteten Denkmals statt. Der Ob-
mann des Denkmalcomités begrüßte die erschienenen
Festgäste, dankte den Spendern und brachte ein
begeistert aufgenommenes Hoch auf Se. Majestät
den Kaiser aus. An Se. Majestät den Kaiser sowie
an Se. k. u. k. Hoheit den Herrn Erzherzog Ludwig
Victor wurden Huldigungstelegramme abgesendet.
Die Landbevölkerung sowie die Bewohner von
Hallein hatten sich in großer Menge zur Feier
eingefunden.
Ischl, 28. August. Gestern Nachmittag ist
hier Frau Graidi von einem Knaben glücklich
entbunden. Mutter, Kind — und Vater befi den
sich wohl.
Dortmund, 28. August. Bei Schwiering-
hausen ereignete sich gestern auf dem Dortmund-
Ens Canal ein Unglücksfall, indem ein Boot, in
welchem sich sechs Insassen befanden, unschlug.
Vier Personen ertranken.
Rom, 28. August. Einem Bologneser Blatte
wird gemeidet, König Humbert habe sich über den
Dreyfuß-Proceſs eingehend Bericht erstatten lassen,
und das Schicksal des unglücklichen Hauptmannes
habe ihn derart erschültert, daſs er wiederholt
fragte, ob denn zu seinen Gunsten von Rom aus
nichts Entscheidendes geschehen könnte.
Belgrad, 28. August. Wie von serbischer
offizieller Seite behauptet wird, soll der Attentats-
process im Laufe der nächsten Woche beginnen.
Mehrere auswärtige diplomatische Vertreter sollen
beabsichtigen, den Verhandlnngen beizuwohnen oder
aber Dragomane dahin zu entsenden. Die Mel-
dung, daſs der Untersuchungsrichter in der Attentats-
affaire als Staatsanwalt fungieren solle, wird als
falsch bezeichnet.
In serbischen officiellen Kreisen wird schließlich
darauf hingewiesen, daſs in Gemäßheit des anläss-
lich der Proclamirung des Belagerungszustandes
promulgirten Gesetzes der ad hoc eingesetzte Gerichts-
hof nach dem in Serbien geltenden Strafgesetze,
jedoch unter Anwendung des summarischen Verfahrens
zu urtheilen haben wird.
London, 28. August. Die „Times“ melden
aus Capstadt vom 26. d. M.: In Geschäftskreisen
herrscht die größte Besorgnis über die Verzögerung
der Beilegung der Krise in Transvaal. Der Handel
liegt darnieder. Die Kaufleute halten ihre Waaren
in den Hafenplätzen zurück, da sie es nicht wagen,
dieselben der Möglichkeit eines Verlustes auszusetzen.
Paris, 28. August. Ein Vertreter der „Lan-
terne“, welcher eine Besprechung mit Du Paty de
Clam hatte, schreibt, Du Paty sei damit beschäftigt.
seine Aussagen zusammenzustellen und beabsichtige
darin weniger sich selbst zu vertheidigen, als zur
Aufdeckung der vollen Wahrheit beizutragen, ohne
sich darum zu kümmern, zu wessen Gunsten diese
Aufdeckung ausfalle. Du Paty werde hiebei alle
Classenvorurtheile hintansetzen.
St. Etienne, 28. August. Das Seil eines
Tragkorhes, welcher mit 16 Arbeitern in den Schicht
hinabgelossen wurde, riſs entzwei. Sämmtliche
Arbeiter sind getödtet.
Oporto, 28. August Im hiesigen Gefangen-
hause wurde ein Pestfall constatiert. Der Erkrankte
wurde in das Isolierspital überführt. Das Ge-
fangenhaus wurde desinficiert.
Der Dreyfus-Process in Rennes.
Rennes, 28. August. Die Sitzung wird
um halb 7 Uhr eröffnet. Es ereignet sich kein
Zwischenfall. Zeichner Javal setzt seine Zeugen-
aussage fort. Zeuge macht Bertillon den Vor-
wurf, daſs er hinsichtlich der Schriftzüge Ester-
hazy's nicht dieselben Versuche vorgenommen habe,
wie hinsichtlich derjenigen Dreyfus'. Javal meint,
Bertillon hätte, anstatt sich auf die Untersuchung
der Schriftzüge Dreyfus' zu beschränken, die Schrift
züge vieler anderer Personen prüfen sollen. Zeuge
bemüht sich die Ausführungen Bertillons Punkt
für Punkt zu entkräften. Er schließt, indem er
erklärt, daſs das System Bertillon's falsch sei und
daſs nur die Eigenliebe den letzteren abhält, seinen
Irrthum einzugestehen.
Hierauf wird Bergingenieur Bernard ein-
vernommen. Derselbe versucht gleifalls das Sy-
stem Bertillon zu widerlegen und erklärt, daſs die
Schrift des Bordereaus eine natürliche sei. Ber-
nard legt den Richtern ein beschriebenes Blatt vor,
dessen Schrift gewisse Eigenthümlichkeiten aufweist,
welche den Schluss gestatten, daſs die Schrift
künstlich hergestellt sei. Zeuge theilt mit, daſs
diese Seite von Bertillon selbst geschrieben wurde.
(Heiterkeit) Bertillon verlangt das Wort. Der
Präsident verweigert es ihm jedoch, nachdem er
erklärt, er werde ihm dasselbe nur zu einer that-
sächlichen Berichtigung ertheilen.
Feysonnieres, welcher im Prozesse vom Jahre
1894 als Sachverständiger im Schreibfache fangirt
hatte, gibt an, daſs er sein damals abgegebenes
Gutachten in seiner Gänze aufrechthalte und kommt
zu dem Schlusse, daſs die Schriststücke auf dem
Bordereau von derselben Hand herrühren, wie die
bei dem Angeklagten beschlagnahmten Vergleichftücke.
Zeuge erörtert sodann eingehend die von ihm
angestellte Untersuchung und gibt ein technisches
Expose.
Die Sitzung wird unterbrochen. Nach Wieder-
aufnahme derselben wird der Schreibfachverstän-
dige Charavay einvernommen. Derselbe hatte
im Jahre 1894 sein Urtheil über das Bor-
dereau und die Vergleichstücke abzugeben. Er
hatte verschiedene graphologische Unregelmäßig-
keiten sowie den Umstand erhoben, daſs die
Scheist verstellt sei, jedoch auch zahlreiche Ana-
logien der Schrift des Bordereaus mit derjenigen
der Vergleichsstücke constatiert. Indessen führt
Zeuge aus, können seine Schluſsfolgerungen vom
Jahre 1894 nicht mehr aufrecht erhalten werden
angesitts einer zweiten Schrift, welche ihm seither
vorgelegt worden ist, nämlich derjenigen Esterhazy's.
Im Ganzen gibt es hier zwei Schriften, welche mit
derjenigen des Bordereaus, im Zusammenhang ge-
bracht werden können und was Charrvay die Ueber-
zeugung verschafft habe, daſs er sich im Jahre 1894
getäuscht habe, ist die Veröffentlichung der Briefe
Eserhazys, die Entdeckung der Fälschung Henry's,
die Untersuchung des Cassationshofes und das
Geständnis Esterhazys. Für uns, sagt der Zeuge,
ist das Bewuſstsein ein großer Trost, vor Ihnen und
vor demjenigen, welcher das Opfer meines Irrthums
war, erkären zu können, daſs das Bordercau nicht
das Weik Dreyjus ist, sondern das Werk Ester-
hazyt. (Andauernde Bewegung.) Auf eine Frage
des Präsidenten erklärt der Zeuge, eine einfache
Prüfung des Bordereaus und der Vergleichstücke
genüge, um sich zu überzeugen, daſs das Bordereau
nicht von Dreysus herrührt.
Ueber Befragen gibt Dreyfus dem Wunsche
Ausdruck, Charavay möge dem Gerichtshof Details
seiner graphischen Beobachtungen mittheilen, welche
ihn dazu gebracht haben, seine Ansicht betrefferd
den Autor des Bordereaus zu ändern. Charavay
erörtert hierauf seine Nachforschungen vom techni-
schen Gesichtspunkte aus. Der nächste Zeuge ist
der Sachverständige im Schreibfache Eugen Pelletier.
Der Zeuge protestirte zunächst gegen gewisse ihn
betreffende Erklärungen des Generals Mercier,
welche geeignet seien, seine Zeugenschaft zu ver-
däctigen. Er halte seine Schlußfolgerungen be-
züglich der Nichtähnlichkeit der Schrift des Vorde-
reaus mit derjenigen des Angeklagten in ihrem
vollen Umfange aufrecht. Nach Prüfung der Ver-
gleichsstücke gelangt der Zeuge zu der Ansicht, daſs
das Bordereau ein Werk Esterhazy's sei, ohne je-
doch seine Ansicht in formeller Weise auszusprechen,
da ihm die Schrift Esterhazy's zu kurze Zeit zur
Disposition gestellt worden sei. Der Archwar des
D partements Seine et Oise, Conard, sagt aus, er
sei im Jahre 1897 gleichzeitg mit Bellehomme
und Varinard als Sachverständiger der Affaire
Esterhazy beigezogen worden. Die Sachverständigen
seien mit aller wünschenswerten Vorsicht vorgegangen.
Conard sei zu dem Schlusse gelangt, daſs das Borde-
reau nicht von Esterhazy herrühre, wofür er seinen
Kopf einsetzen würde. Die Schrift des Bordereaus
zeige wiederholte Unterbrechungen und Wider-
sprüche. Mehrere Sachverständige erklärten gleich-
falls, daſs es das Werk eines Fälschers sei, da
ja die Schrift Esterhazy's in einem Zuge fortlaufe.
Conard bezweifelt die Aufrichtigkeit der Erklärungen
Esterhazy's. Auf die Prüfung des Bordereaus
übergehend erklärt der Zeuge, er glaube, daſs sich
der Autor desselben einer Schablone bediente,
welche er unter das Pelurepapier gelegt hatte.
Er versichert in formeller Weise, daſs das Document
nicht von Esterhazy herrühre, lehnt es jedoch ab,
sich in irgend einer Weise über Dreyfus zu äußern,
dessen Schrift er niemals einer Prüfung unterzogen
habe. Ueber Befragen Demange's erklärt
Zeuge, das vier oder fünf Worte des Bordereaus
der Schrift Esterhazy nachgepaust seien. Er könne
nicht sagen, ob die Schrift Dreyfus' durchgepaust
wurde. Jedenfalls sei gepaust worden.
Da Conard Zweifel bezüglich der Provenienz
eines Briefes Esterhazy's ausgedrückt hatte, welche
ihm als Vergleichsstück diente, läſst Demange die
Erklärungen Athalin's und Rieux' vor dem Cassations-
hof verlesen, welche die Authenticität dieses Briefes
feststellten. Dreyfus bemerkt, Zeuge habe vergessen
zu sagen, daſs alle Sachverständigen, von denen er
gesprochen, einmüthig erklärten, daſs das Bordereau
nicht von ihm herrühre. — Sodann wird der Sach-
verständige Varinard vernommen, welcher ebenso wie
der zuletzt einvernommene Sachverständige die An-
sicht aufrecht erhält, daſs das Bordereau ungeachtet
der Erklärungen Esterhazy's nicht von demselben
herrühre. Ueber Verlangen des Regierungscommissärs
Carrière ordnet der Präsident die Entsendung einer
Gerichtscommission an den Berichterstatter des ersten
Kriegsgerichtes an, um von diesem die Aussage
Du Paty's zu erhalten. Die Sitzung wird hierauf
um 11 Uhr 50 Min. geschlossen. Es ereignete sich
kein Zwischenfall. In der morgigen Sitzung werden
Cordier und Freycinet einvernommen werden.
Paris, 28. August. Der „Temps“ schreibt,
die Aussage Freystätters habe den Richtern des
Kriegsgerichtes in Rennes den Weg zur Wahrheit
und Gerechtigkeit gezeigt. Die radikalen Blätter
erkläten, es bedürfe nunmeh: kiner parlamentari-
schen Enquete, um Merc er vor den Staatsgerichts-
hof zu stellen.
*ennes, 28. August. Seit Samstag waren
hier und in Paris Grüchte verbreitet, General
Mercir habe die Flucht ergriffen. Die Gerüchte
fanden noch dadurch eine Verstärkung, daſs
General Mercier seit Samstag unsichtbar war.
Sie fanden jedoch ihre Widerlegung darin, daſs
der General heute wie gewöhnlich im Gerichts-
saale erscher.
Paris, 28 August Demnächst erfolgt die
Einberufung des Staatsgerichtshofes in Angelegen-
hit des letzten Complots.
Paris, 28. August. Gegen die Journale
„Intransigeant“, „Libre Parole“, „Soir“, „La Patrie“
und „Journal du peuple“ wurde wegen Aufreizung
zu Strassendemonstrationen die gerüchtliche Verfol-
gung und gegen den Director des „Eclair“ sowie
den Journalisten Lassajoux eine gerichtliche Unter
Telegrapsiische Nachiriciten.
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