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Karlsbader „Badeblatt und Wochenblatt“ Nr. 113
17. Mai 1895
Von einer Auflösung des Reichstags infolge
der Ablehnung der Umsturzvorlage sprach man
wohl ganz zu Anfang, als man den Regierungs-
entwurf noch nicht kannte und den Commissions-
entwurf noch nicht hatte. Aber sonst war es schon
lange vor der Entscheidung sicher, daſs von Auf-
lösung nicht die Rede sein könne. Eine Auflösung
hat nur einen Sinn, wenn die Regierung einer
Zufallsmehrheit oder einer nicht besonders großen
Mehrheit gegenüber die Partie verloren hat, nicht
aber wo es sich um ein Gesetz handelt, über das
Reichstag und die Crême der Nation so eindeutig
ihr Urtheil abgegeben haben.
Einige beantworten die Frage: Was thun?
mit Hindeutungen auf einen Staatsstreich, mindestens
mit Anpreisungen einer Beschränkung des allgemeinen
Wahlrechtes. Vom Staatsstreich wollen wir gar
nicht sprechen, weil der Staatsstreich ein Verbrechen
ist und es beleidigend ist, jemandem ein Verbrechen
zuzumuthen. Was die Beschränkung des Wahl-
rechtes anbetrifft, so kann sie nur denen sich empfehlen,
die ein furchtbares Blutbad für wünschenswert halten.
Die socialdemokratischen Führer sprechen seit lange
schon nicht mehr von gewallsamem Umsturz, sei es,
weil sie klüger oder weil sie — schlauer geworden
sind. Als aber bei der zweiten Berathung der
Umsturzvorlage von der Beschränkung des Wahl-
rechtes die Rede war, da konnte selbst Bebel, trotz-
dem die Umsturzvorlage noch drohte, nicht umhin
auf die blutigen Folgen eines solchen Schrittes hin-
zuweisen.
Aber etwas wird doch geschehen müssen, und
zwar nicht deshalb weil Carnot ermordet worden
ist, sondern weil die Regierung, die so sehr die
Nothwendigkeit betont hat, dass etwas geschehen
müsse und sogar soweit gehen wollte, dem Volke
ein so monströses Gesetz aufzuhalsen, moralisch ge-
radezu verpflichtet ist, etwas zu thun. Die Umsturz-
vorlage ist todt! Es lebe die — Umsturzvorlage!
soll Herr v. Köller seinen Freunden zugerufen haben.
Herr v. Köller mag in diesem Punkte recht haben.
Diese neue Umsturzvorlage nun wird einmal nicht
von Herrn v. Köller inspiriert und vertheidigt
werden dürfen und im Uebrigen der eben abge-
schlachteten so unähnlich sein müssen, wie nur irgend
möglich.
Gegen die Bekämpfung des Umsturzes haben
nur sehr Wenige etwas einzuwenden. Die über-
wiegende Mehrheit der Nation, auch der — „Social-
demokratie“ wünscht keinen Umsturz. Zu einer ver-
nünftigen Bekämpfung der Umsturzbestrebungen ist
die günstigste Prädisposition vorhanden. Für die
neu auszuarbeitende Vorlage kann die Regierung
aus der Geschichte der abgelehnten Umsturzvorlage
ungemein viel lernen. Thäte die Regierung dies,
dannhätte die berüchtigte Umsturzvorlage wenig-
stens einen guten Zweck gehabt, den, der Regierung
zu zeigen, wie eine Umsturzvorlage nicht sein soll.
Die etwaige neue Umsturzvorlage wird namentlich
unbestimmten, kautschukartigen Fassungen, die Zu-
muthung großer Vertrauensseligkeit, die Bekämpfung
geistiger Bewegungen durch Strafbestimmungen und
vor allem die Hineinzerrung Gottes, der Religion
u. dgl. m., die Bedrohung der Literatur, Kunst
und Wissenschaft und noch vieles andere mehr ver-
meiden müssen. Alsdann wird die Regierung daran
denken müssen, daſs die Umsturzbestrebungen am
allerbesten dadurch bekämpft werden, daſs man die
Gründe nach Möglichkeit entfernt, die Umsturz-
gelüste erzeugen.
Tocal-Nachrichten.
(Das dritte Symphonie-Concert)
der Kurkapelle findet heute im Café Posthof statt.
(Localbahn Karlsbad-Johann-
georgenstadt) Das k. k. Handelsministerium
hat unterm 30. April die k. k. Statthalterei in
Prag beauftragt, hinsichtlich der vorgelegten De-
tailprojecte der Theilstrecken Karlsbad-Neurohlau
der Bahnlinie Karlsbad-Johanngeorgenstadt mit
einer Abzweigung zum Karlsbader Centralbahnhofe
und einer Verbindungscurve, dann hinsichtlich des
Detailprojectes für die Theilstrecke Neudek Johann-
georgenstadt die Trassenrevision und bei anstands-
losem Ergebnisse dieser Amtshandlung die politische
Begehung und Enteignungsverhandlung einzuleiten
und die k. k. Statthalterer ermächtigt, bei anstands-
losem Commissionsergebnisse den Bauconsens zu
ertheilen.
(Die sogenannten drei Eisheiligen)
die nicht nur oft die Menschheit, sondern auch den
Kalender zu ärgern wissen, indem sie z. B. dieß-
mal nicht an den ihnen zugewiesenen Tagen des
12., 13 und 14. erschienen, sondern mit einer Ver-
spätung erst gestern ihren ersten Repräsentanten
sich einstellen ließen, scheinen ihr Regiment dies-
mal doch noch ernst nehmen zu wollen, denn die
plötzlich herrschende Kühle und das naſskalte Wetter
sind so die richtigen Altribute dieser gestrengen
Herren. Hoffentlich währt ihre Herrschaft nicht
allzulange, solch unangenehmer Gäste will man bald
los sein!
(Eröffnungs-Schießen.) Am Don-
nerstag den 23. und Sonntag den 26, ds. findet
auf der Schießstätte der Scheidenschützengesellschaft
ein Eröffnungs-Schießen statt. Zur Aufstellung
gelangen eine Scheibe „Glück“, eine Scheibe „Kunst“
eine „Jagd-Scheibe“ und eine „Pistolen-Meister-
Scheibe.“ Besonders die Jagd-Scheibe, die sich
im Vorjahre großer Beliebtheit erfreute, ist den
Jagdschützen bestens zu empfehlen, da dieselbe für
die Bürschzeit eine gute Uebung ist und gleichzeitig
Gelegenheit bietet, die Jagdgewehre einzuschießen.
(Concert Gothov-Grüneke.) Morgen
4 Uhr nachmittags findet im Etablissement Sans-
souci das erste Concert der Gesellschaft Gothov
Grüneke statt. Die Gesellschaft, bestehend aus acht
jungen Wiener Sängerinnen unter Leitung des
Componisten Gothov Grüneke, pflegt das Wiener
Walzer-Genre und wird von einem Orchester be-
gleitet. Diese Concerte finden alle Samstag, Sonn-
tag und Montag statt.
(Israelitischer Gottesdienst) Samstag.
den 18. Mai, 10 Uhr vormittags findet in der
hiesigen Synagoge Gottesdienst und Predigt statt.
(Die Subſistenzzulagen der Skaats-
beamten.) Es steht nunmehr fest, daſs das
Ausmaß der Subsistenzzulagen für die Staats-
beamten für das laufende Jahr in jener Höhe
verbleibt, wie sie vom Finanzminister in der be-
kannten Vorlage beantragt wurde, nämlich für die
Beamten der elften Rangskasse 60, für jene der
zenhnten Rangsclasse 80 und für jene der
nennten Rangsclasse je 100 fl. Bei einigen Ober-
behörden sind bereits die Liquidaturen angewiesen
worden, die Zulagen in diesen Beträgen zur Ge-
bür in den Büchern vorzuschreiben. Wenngleich
also nach dem Gesagten eine Erhöhung der ur-
sprünglich beantragten Beträge für heuer nicht er-
wartet werden kann, so soll wenigstens rücksichtlich
der Auszahlungstermine eine Begünstigung in der
Art eintreten, daſs die Zulagen statt, wie es in
dem ursprünglichen Antrage gelautet hat, viertel-
jährig, halbjährig an die Beanten zur Auszahlung
gelangen. Nachdem nun der auf den 1. Juli 1895
gefallene Zahlungstag für das erste Halbjahr be-
reits längst verflossen ist und mit dem kommenden
1. Juli der zweite Semestraltermin eintritt, so
wird an dem letztgenannten Tage die Zulage in
ganzen Jahresbeträgen zur Auszahlung gelangen,
so daſs also am 1. Juli die Beamten der drei in
Betracht kommenden Kategorien je 60, 80 und
100 fl. im Ganzen erhalten. Diese Auszahlungs-
art wurde deshalb gewählt, damit die Beträge,
welche die Bezugsberechtigten erhalten, doch wenigstens
einigermaßen „ausgiebig“ sind.
(Geschworenen-Entschädigungs-
Verein.) Für die 2. Schwurgerichts Periode
d. J, welche 6 Tage in Anspruch nahm, wurden
an 21 Mitglieder 362 fl. als Entschädigung aus-
bezahlt. Hievon eutfallen auf 14 Mitglieder aus
Eger und unter einer Meile von Eger wohnhaft
198 fl. und auf 7 Mitglieder über eine Meile
von Eger entfernt 164 fl., auf 17 Haupt-Ge-
schworene 317 fl. und auf 3 Ersatz-Geschworene 45 fl.
(Verbotenes Heilmittel.) Der Ver-
trieb des vom Apotheker Brady in Kremsier unter
pomphafter Anpreisung gegen verschiedene Krank-
heiten in Verkehr gesetzten „Myrrhen-Creme,“
welches aus Wachs, Oltvenöl und einem konzen-
trierten Oelauszug der Myrthe besteht und dem
die Wirksamkeit eines Heilmittels beigelegt wird,
wurde aus öffentlichen sanitätspolizeilichen Rück-
sichten verboten.
(Orientierungstafeln in den Eisen-
bahnstationen.) Es kommt nicht selten vor,
daſs Reisende in Stationen, in welchen zwei oder
mehr Züge gleichzeitig Aufenthalt nehmen, zufolge
Mangels entsprechender, die Zugrichtung bezeichnende
Feuilleton.
Beim Friseur.
Das „Wiener Fremdenblatt“ bringt über die
Sovntagsruhe im Friseurgewerbe folgende launige
Bitrachtung, die wir der Conformität mit den heu-
tigen Verhältnissen halber hier wiedergeben. Das
Blatt schreibt:
Am Sonntag war es zum zweitenmale Ernst
mit der Sonntagsruhe der Friseure. Von zwei
Uhr an blieben die Säden geschlossen, in denen der
Mensch mittelst Kammes und Rasirmessers zu den
lichtesten Höhen der Zivilisation emporgehoben wird
und wer den Termin versäumte, war verurtheilt
mit werktäglichen Bartstoppeln und ungepflegtem
Kopfhaare den Vergnügungen nachzugehen, wie der
Sonntag sie mit sich zu bringen pflegt. An alle
erdenklichen Arten der Sonntagsruhe haben die
Wiener sich rasch und gutwillig gewöhnt, sogar an
diejenige der Tabaktrafiken, zumal man sich recht-
zeitig mit Cigarrenvorrath über den Sonntag hin-
aus versehen kann. Nur mit dem Frieseutladen
hat die Sache noch ihre Schwierigkeit.
Der Wiener kann und will nicht glauben, daſs
er vor die unbeugsame Alternative gestellt ist: ent-
weder bis 2 Uhr rasirt zu sein oder unrasirt durch
dieses Erdenthal zu wandeln. Sich im Voraus
rasiren lassen, das geht guterdings nicht an, denn
über Nacht wächst der Bart fleißig nach, kennt in
seiner steten Wiedergeburt keine Sonntagsruhe,
entwickelt sich immer von Neuem, ohne sich um be-
behördliche Verfügungen zu bekümmern ... Waren
schon bisher die Sonntag-Vormittage im Friseur-
laden reich an kleinen Episoden, die der Beachtung
lohnten, so haben sie sich nun noch belebt und
reizen Einem zur Beschreibung. Auch der Häss-
lichste hat das Bedürfnis, am Sonntag nach Kräften
schön zu erscheinen und er sucht diesem Drange
dadurch zu genügen, daſs er sich die Wangen
glätten, die Haare kräuseln, den Schnurrbart aus-
ziehen oder gar mittelst der bändigenden Schnurr-
bartbinde dressieren lässt. So war es denn er-
klärlich, daſs an Sonntagen von früh Morgens
an bei jedem Wiener Friseur kleine Versamslun-
gen stattfanden. Jeder Stuhl war besetzt, an den
Wänden lehnten bleiche Gestalten, die des Augen-
blickes harrten, da auch an sie die Reihe kommen
sollte Freilich zeigten fast alle eine fieberhaste Un-
geduld. Jemand, der gehenkt oder geköpft werden
soll, zeigt merkwürdigerweise keine Eile; sogar beim
Zahnarzt, der Einem das halbe Gebiss reißen soll,
wartet man friedfertig, bis man gerufen wird. Nur
beim Raseur will Niemand warten, und öffnet
Einer die Thüre und sieht eine erkleckliche Anzahl
von Kandidaten versammelt, so sagt er gern: „Ich
komme später“, und bislang hatte er die Freiheit,
Nachmittags zurückzukehren, um sich dann in aller
Stille kultiviren zu lassen, oder die ganze Welt zu
foppen und unrasirt zu bleiben.
Wie anders jetzt! Man weiß, daſs um zwei
Uhr die zwölfte Stunde schlägt, und bangen Slickes
schaut man auf den Zeiger, der dem entschei-
denden Zeitpunkte entgegeneilt. Ja, man gönnt
sich nicht einmal, wie bis vor Kurzem, das Ver-
gnügen, in den Sonntag Vormittag hinein zu schlafen,
denn wie leicht findet man sonst den Frisierladen
überfüllt und muss, wenn es zwei Uhr schlägt, un-
rasierter Dinge abziehen! Diese Angst jagt Einen
Früh aus dem Bette, erzeugt sogar in der Nacht
vom Samstag auf Sonntag böse, ängstigende Träume,
Alpdrücken mit grässlichen Erscheinungen wie z. B.
tausendzweihundert Raseurgehilfen, die sich Einem
auf die Brust setzen und Einem' den Kopf weg-
rasieren ... Nur die Inhaber der Friseurladen,
als echte Philosophen, bewahren ihre Seelenruhe,
sie beschwichtigen den neu Eintretenden mit der
aufmunternden Versicherung: „Im Augenblick!
Es kommen nur noch vier Herren vor Ihnen.“
Und sie reichen dem also Beschwichtigten ein Witz-
blatt; der Harrende nimmt es zur Hand, liest es,
aber er lacht nicht, nein, er sieht der Wartezeit
traurig entgegen und denkt bei sich: „Was waren
das doch für schöne Zeiten, als man sich am Sonntag
auch nach zwei Uhr noch konnte rasieren lassen!“
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