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Karlsbader Badeblatt Nr. 45 am 21. Juni 1893.
demokraten und Antisemiten, die in früheren Jahr-
hunderten nur andere Namen führten, an Unheil
über ein Land bringen können. —
Berlin, 20. Juni. In der letzten Nacht hat
es hier sehr stark gewittert, jedoch der sehnlichst
erwünschte Regen war nicht anhaltend genug.
Berlin, 20. Juni. Der Maler Scholz,
welcher durch 42 Jahre den „Kladderadatsch“
illustrirte, ist gestorben.
Schneidemühl, 20. Juni. In Folge einer
Wasser-Calamität sind 23 Häuser eingestürzt und
weitere Einstürze werden noch erwartet. — Achzig
Familien mußten ihre Wohnungen räumen.
Dux, 20. Juni. Heute ist hier ein Strike
von Bergarbeitern ausgebrochen, und zwar auf dem
Rudolf- und Wilhelmschacht in Dux und auf drei
Schächten in Bilin. Man glaubt, daß noch heute
ein allgemeiner Ausstand erfolgen wird.
Brünn, 20. Juni. In der Fabrik des
Moses Löw Beer in Zwattawka brach heute Nacht
ein Brand aus. Die Schadenssumme ist noch nicht
festgestellt.
Budapest, 20. Inni. Der Sekretär des
Fürstprimas von Ungarn Dr. Medardus Kohl
wurde zum Abt von Tekl ernannt.
Bern, 20. Juni. Die einheimischen Arbeiter
versuchten gestern die italienischen Arbeiter mit Ge-
walt von den Bauplätzen zu vertreiben. Es kam
zu einem Zusammenstoße, wobei 5 Italieuer ver-
wundet und 13 Personen verhaftet wurden. Abends
wiederholten sich die Exzesse. Die Polizisten mußten
von der blanken Waffe Gebrauch machen, wobei
zahlreiche Tumultuanten verwundet wurden.
Deutschlands wahlresultate.
Berlin, 18. Inni 1893.
Die Hauptfrage, um die es sich bei den dieß-
maligen Wahlen handelte, ist noch nicht entschieden,
schon weil die Hälfte der Wahlen ungefähr noch-
mals stattzufinden hat. Noch ist kein Weiser im
Stande zu sagen, ob die Mehrzahl der neugewählten
Reichsboten für oder gegen die Militärvorlage ist,
bezw. sein wird. Ja nur wenn eine der Vorlage
günstige Mehrheit aus den Wahlresultaten sich er-
gäbe, wäre das Schicksal der Militärvorlage gewiß.
Zeigen aber die Wahlziffern eine der Vorlage
feindliche Majorität an, dann ist es noch keineswegs
gewiß, daß eine Ablehnung wirklich erfolgt. Reichs-
boten haben kein imperatives Mandat und Centrums-
männer, zumal wenn sie ein frisches für fünf Jahre
giltiges Mandat besitzen, haben schon öfter gezeigt,
daß sie rechtzeitig umzufallen oder durch Abwesenheit
zu glänzen verstehen. Auf die Hauptfrage also
werden wir die Antwort frühestens nach den Stich-
wahlen, wenn nicht gar erst nach dem Zusammentritt
des neuen Reichstages erhalten. Jedenfalls liegt
ein definitives Resultat hier noch nicht vor.
Dagegen haben die Wahlen zwei andere sehr
bemerkenswerthe und nicht leicht zu nehmende Re-
sultate ergeben. Wie man es auch drehen und
wenden mag, der Freisinn ist auf's Haupt geschlagen.
Der Richter'sche wie der Rickert'sche Flügel haben
eine schwerwiegende Niederlage erlitten; der erstere
hat jetzt alle Mandate verloren, der Rickert'sche
wenig genug erhalten. Der erstere hat mehr, der
letztere weniger Aussichten in den Stichwahlen sich
einige zu holen. Zu sagen, daß die Wähler sich
gegen die Ablehnung der Militärvorlage hiermit
erklärt haben, ist überaus oberflächlich. Nicht nur
gibt es vorläufig keine Majorität für dieselbe, es
ist auch überaus wenig wahrscheinlich, daß eine zu
Stande kommt. Sehr bezeichnend jedenfalls doch
ist, daß die beiden Männer, die in gewissem Sinne
sich für die Militärvorlage geopfert und die Spal-
tung ihrer Fraktionen herbeigeführt haben, der
Centrumsführer Huene und der Freisinnige Hinze
nicht gewählt worden sind. Oberflächliche Urtheile
sich zu gestatten, ist aber jetzt wahrlich nicht Zeit,
wie das dritte, nach unserer Ansicht das wichtigste
Wahlresultat lehrt.
Das dritte und überaus wichtige Wahlresultat
ist die Zunahme der sozialdemokratischen und anti-
semitischen Stimmen. Man gehe über dieses Re-
sultat nicht leichtfertig hinweg, auch wenn die Zahl
der Mandate dieser Stimmenzahl nur wenig ent-
sprechen sollte. „Die Jahre fliehen pfeilgeschwind;“
und wie die sozialdemokratische Fraktion von einem
auf fünfzehn und sechsunddreißig Abgeordnete an-
gewachsen ist und in den Stichwahlen sich vielleicht
um zwanzig noch vermehrt, so kann sie schon bei
den nächsten Wahlen sich um fünfzig vermehren.
Wem hat, dem wird gegeben, das gilt auch von
politischen Parteien. Und ähnlich wie es den
Sozialdemokraten ergeht, kann es auch den Anti-
semiten ergehen, die weiter nichts sind als entweder
dumme oder — verschämte Sozialdemokraten. Der
Arbeiter wählt sozialdemokratisch, der kleine Beamte,
Krämer, Handwerker, der vor Andern oder sich
gegenüber eines Mäntelchens bedarf, wählt anti-
semitisch.
Sozialdemokraten und Antisemiten bilden zu-
sammen das Gros der Unzufriedenen im Reiche.
Richtiger die Unzufriedenen sind nicht, zum größten
Theile nicht Sozialdemokraten und Antisemiten,
sondern sie stimmen sozialdemokratisch und anti-
semitisch, weil die Bebel und die Ahlwardt ohne
Scheu, ohne Rücksicht auf die Logik der Dinge
versprechen, was das Herz des gemeinen Mannes
begehrt und reden, was das Ohr des gemeinen
Mannes gern hört. Ob es hilft, ob es vernünftig,
ob es gut, gerecht, wahr, anständig, moralisch ist,
das ist ganz egal. Das Gefährlichste ist, daß auch
sonst hochgebildete aber dem Weltgetriebe fremde
und dieses jedenfalls nicht verstehende Männer,
Gelehrte, Beamte, durch Mitleid mit in der That
traurigen Verhältnissen sich verleiten lassen, Denen
Beifall zu spenden, die Abhilfe versprechen, ohne
sie doch wirklich für die Dauer leisten zu können.
Diese sind am meisten verantwortlich für die Zu-
nahme der sozialdemokratischen und antisemitischen
Stimmen, die, wenn sie noch einige Zeit fortdauert,
eine größere Gefahr für das Reich und die Welt
bedeuten, als es selbst ein verwüstender Krieg wäre.
Die Staatsmänner, die verantwortlich sind
für das Gedeihen der Nation, können sich nicht
früh und ernst genug mit diesem Wahlresultate
beschäftigen. Weise Abhilfe zu schaffen, wo eine
solche möglich ist, und viel kann geschehen — und
energisch abzuwehren, wo dieß nothwendig ist, das
ist dringender erforderlich als irgend eine andere,
auch die anscheinend wichtigste Maßregel. Die
deutsche Geschichte lehrt nur zu gut, was Sozial-
Politische Tages-Chronik.
Oesterreich.
Unter dem Titel: Plener schreibt die „Deutsche Wacht
an der Miesa“ über den deutschen Führer: „Wenn es wahr
wäre, was der Volksmund sagt, daß dem Menschen, wenn
von ihm gesprochen wird, die Ohren gellen, so müßte das
Trommelfell Pleuer's derzeit in steter gitternder Bewegung
sein. Von den Deutschfortschrittlichen findet dieser Uner-
müdliche hiebei noch zum größten Theile die richtige und
gerechte Würdigung, dagegen wird er nicht allein von den
Slaven Oesterreichs beschimpfiert, auch alle Angehörigen
sogenannter deutscher „Sonderbündel“, 1. B. Germanen-
bündel, Katholische Volksvereinsbündel, Bauernbündel u.
s. w. wetzen ihre Zungen an den Thaten dieses wackeren
Mannes. Dieses armselige Geschäft vergönnt man diesen
händelsüchtigen Leuten, die vor der eigenen Thüre in kehren
hätten, aus vollstem Herzen; denn wenn ihr Stanb längst
zerrieben und selbst der Name der deutschen Zwietracht-
stifter und Spottvögel längst versunken und verklungen
sein wird, so lebt noch, von Klio hochgeehrt, das Andenken
Plener's, daher das Andenken jenes Mannes, der hoch-
erhobenen Hauptes, mit treuer deutscher Gesinnung, ruhiger
Ueberlegung und selbstlosem edlen Herzens den Deutschen
Böhmens in der härtesten Zeit der ehrlichste und nneigen-
nützigste Führer gewesen ist.“
— In Prag kam es anläßlich der Kundgebung für
das allgemeine Stimmrecht zu einem heftigen Kampfe
zwischen den Sozialisten und der Polizei. Die Ersteren
eröffneten einen heftigen Steinhagel gegen die Wachleute,
wobei einem Inspektor der Unterkiefer zerschmettert wurde;
als er bewußtlos am Boden lag, hieb die Menge auf ihn
mit Stöcken ein. Den Wachlenten wurden die Säbel ent-
rissen. Die Polizei zählt 18 Verwundete, darunter acht
schwer Verletzte. Die Sozialisten schleppten ihre Ver-
wundeten fort, deren Zahl daher nicht festgestellt werden konnte
Der in Prag abgehaltene deutsche Parteitag nahm“
einstimmig eine Entschließung an, die der Entrüstung des
deutschen Volkes über das Vorgehen der Jungtschechen im
Landtage und die an der Landesvertretung berübten Ge-
waltakte Ausdruck gibt und als Pflicht der Regierung
erklärt, durch Verwaltungsmaßnahmen aus ihrer Zurück-
haltung herauszutreten. Für den Fall einer ablehnenden
Haltung der Regierung, wird von den deutschen Ab-
geordneten die äußerste oppositionelle Stellungnahme er-
wartet. Gleichzeitig wird ausgesprochen, daß das dentsche
Volk in Böhmen am Wiener Ausgleiche festhalte. Die
Entschließung erklärt ferner, die Deutschen seien un-
versöhnliche Gegner des tschechischen Staatsrechtes.
Deutschland.
Das Wachsthum der Socialdemokratie und die Ver-
luste der freisinnigen Partei entspringen denselben Ursachen
der in Deutschland herrschenden Unzufriedenheit und der
Abstandnahme der Führer der socialdemokratischen Partei
von der Betonung der chimärischen Verheißungen, durch
welche sie früher so manche Gimpel gefangen haben. Sie
wissen, daß mit dem Zukunftsstaats-Gemälde, welches
Fabriksarbeitern imponirt hat, weder im Bürgerthume noch
auf dem Lande Glück zu machen ist. Den scharfen An-
griffen gegenüber in der letzten Session des verflossenen
Reichstages haben sie denn auch gar nicht versucht, die
Des Badearztes Frau.
Roman von Heuriette Franz.
Nachdrucverhten
19. Zortfetung.
„Nach einigen Tagen war die Gefahr, in
welcher das Leben meines Vaters schwebte, beseitigt,
aber noch bedurfte er ärztlichen Beistandes und
Hilmar kam häufig ihn zu besuchen. Ich konnte mir
nicht verhehlen, daß meine äußeren Gaben auf ihn
tieferen Eindruck machten; diese Wahrnehmung, die
sich mir schon bei unserer ersten Begegnung auf-
drängte, sollte mir dienen, mich dem Ziele zuzu-
führen, welches ich mit aller Macht meiner Seele
zu erreichen streibte: die Demüthigung des Treu-
losen, der sich des Verrathes an meinem Herzen
rühmen mochte.“
„Hilmar's günstige Erscheinung, die Feinheit
seines Benehmens eigneten sich zu meinem Zwecke.
Man konnte glauben, daß er mir Neigung einge-
flößt. Ich suchte das Gefallen, welches er an mir
fand, zu erhöhen. Warum soll ich es Ihnen nicht
offen bekennen, warum mich besser schildern als ich
bin? In der Verblendung meines getränkten Stolzes
scheute ich nicht davor zurück, mit dem Aufgebot
weiblicher Koketterie Hilmar's Bewunderung zur
Leidenschaft zu entfachen. Er wähnte sich von mir
geliebt und ich kehrte als seine erklärte Braut in
die Residenz zurück.
„Triumphirend über meinen Sieg und doch
im Innern meiner Seele weinend, forschte ich nach
Nachrichten von Wilhelm. — Niemand von unseren
Freunden hatte Kunde von ihm erhalten, er war
wie verschollen. Ich vermuthete, daß er seinen
Aufenthalt in Schlesien verlängert hatte — viel-
leicht befand er sich aber schon mit seiner jungen
Frau auf der Hochzeitsreise. Mein Vater und Alle,
die mich kannten, staunten über meinen Wankel-
muth, man begriff nicht, daß Wilhelm's Bild so
bald durch eine neue Erscheinung aus meinem
Herzen verdrängt werden konnte. Einige glaubten,
sie hätten sich in meinen Empfindungen getäuscht;
ich hütete mich Jemandem mitzutheilen, daß ich ver-
nommen, Wilhelm sei Bräutigam. Er hatte, als
er von uns Abschied genommen, von einer Familien-
angelegenheit gesprochen, welche vor der Welt noch
Geheimniß bleiben sollte — ich wollte dieses Ge-
heimniß nicht enthüllen, selbst meinem Vater hatte
ich verheimlicht, was ich durch Wilhelms Schwester
erfahren. Er konnte daher nicht in meinem Herzen
lesen und freute sich des künftigen Schwiegersohnes,
dem er die Rettung seines Lebens verdankte. Hil-
mar's Leidenschaft und mein Wunsch, vor Wilhelm's
Augen als die Gattin eines Anderen zu erscheinen,
vereinten sich, unsere Verbindung zu beschleunigen.
Der Tag der Hochzeit ward auf einen früheren
Zeitpunkt festgesetzt, als anfangs beschlossen worden.
Ich lebte wie in einem Taumel dahin, in einer
Gemüthsstimmung, die an Irrsinn grenzte. Nicht
kümmerte es mich, den Charakter meines künftigen
Gatten kennen zu lernen, einige dunkle Punkte in
seiner Familiengeschichte, welche er aufrichtig meinem
Vater und mir bekannte, erschienen mir, obschon sie
den Ersteren verstimmten, durchaus keiner Beachtung
werth. Ich schrieb, um meiner Rolle treu zu bleiben,
zärtliche Briefe an Hilmar, doch während ich sie
schrieb, flossen heiße Thränen um den Verräther,
den ich vergebens aus meinem Herzen zu verban-
nen strebte.
„In fieberhafter Erregung sah ich dem Tage
entgegen, der mich mit dem ungeliebten Manne
verbinden sollte; in meiner namenlosen Verblendung
fürchtete ich, es könnte noch im letzten Momente
ein Hinderniß eintreten und mein Triumph über
den Ungetreuen zunichte werden. Es kam kein
Hinderniß.“
Ottilie hielt inne, ein schmerzliches Stöhnen
entrang sich ihrer Brust.
„Der entscheidende Schritt war gethan“, fuhr
die junge Frau, wieder Fassung gewinnend, fort.
„Wir kehrten aus der Kirche nach Hause zurück.
Als das Hochzeitsmahl vorüber war, verließ ich
den Salon, um das Brautkleid gegen einen Reise-
anzug zu vertauschen. Die Kutsche, welche Hilmar
und mich nach dem Bahnhofe führen sollte, war-
Dateiname:
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