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Politische Briefe.
Berlin, 20. Juli.
Ein sanfterer Wind weht aus Rom zu uns herüber,
und auch hier hat man die rauhen Worte, die aus der
Kulturskampfperiode herstammten, wieder bei Seite ge-
legt und spricht ruhiger, würdevoller und macht schon des-
wegen einen besseren Eindruck nicht nur auf die Umgebung
des Papstes, sondern auch auf die Vertheidiger der Staats-
autorität. Die letzte Jakobini'sche Note war ein faux pas,
das sieht man in Rom ein, und in Berlin sieht man ein,
daß man aus der Rolle fiel, wenn man sich über diesen
faux pas ärgerte. Die Rolle, welche die preußische Regie-
rung sich zugedacht, aber noch während der parlamentari-
schen Verhandlungen vergessen und wenigstens nicht genü-
gend betont hatte, war: Rom Rom sein zu lassen, den
Katholiken aus eigener Machtvollkommenheit zu gewähren,
was sie in einem zivilisirten Staate mit Fug und Recht
verlangen konnten, und was ihnen nur inder Hitze des Gefechts
und nicht durch die Schuld des Staates allein wegesca-
motirt worden war, und im Uebrigen abzuwarten. Diese
Rolle ist aber nicht mit genügender Festigkeit durchgeführt
und daher auf beiden Seiten mißverstanden worden. Die
Römlinge glaubten über Gebühr triumphiren und — mehr
verlangen zu können. Die Liberalen glaubten über den
Gang nach Kanossa jammern zu müssen. Erst jetzt zeigt
sich eine Aufklärung hüben wie drüben. Die Regierung
läßt durch ihre offiziösen Organe betonen, daß sie nur
Uebelstände, notorische, auch von den Gegnern der letzten
kirchenpolitischen Vorlage als solche anerkannte Uebelstände
beseitigt, die Waffen aber zur Vertheidigung des Staates
nicht aus den Händen gegeben habe und eventuell von
ihnen Gebrauch zu machen entschlossen sei. Nun hat man
allerdings Ursache, auf die offiziösen Auslassungen nicht
allzuviel zu geben. Aber — die letzte päpstliche Note ist
nicht beantwortet worden; der preußische Botschafter beim
Vatikan hat sich kühl verabschiedet und es ist sogar als
offene Frage hingestellt worden, ob er — zurückkehren wird.
Dies Alles vereint hat den Uebermuth drüben etwas ge-
dämpft, die Niedergeschlagenheit hier einigermaßen gehoben,
so daß wir in einer jetzt jedenfalls angenehmeren Atmos-
phäre leben.
Die Gerichtsferien verzögern leider in namentlich für
den greisen Dichter sehr bedauerlichen Weise die Lösung der
„Affaire Kraszewski.“ Der Schleier, welcher dieselbe ver-
hüllt, ist noch nicht gelüftet worden. Wie sehr man be-
hördlicherseits bestrebt ist, das Dunkel zu erhalten, geht
daraus hervor, daß ein Gerichtsbeamter, der nur die
Thatsache von der Ueberführung Kraszewski's von Dresden
nach Berlin einem Journalisten mitgetheilt hat, sofort ent-
lassen worden ist. Das Unbegreiflichste ist und bleibt für
Alle, die Kraszewski mehr oder weniger kennen, daß er sich
an seinem Lebensabend in Verschwörungen eingelassen haben
sollte. Es entspricht dies weder seinem Temperament noch
seinem Charakter, noch seinen politischen Anschauungen, ja
selbst nicht einmal, trotz seiner Theilnahme an der polni-
schen Revolution von 1830 seinen politischen Antecedentien.
Um so gespannter eben ist man auf die schließliche Lösung
des Räthsels, die nun leider länger auf sich warten lassen
wird, als man bei der Verhaftung befürchten zu müssen
glaubte.
Die Einwohnerzahl Berlins hat die Zwölfmalhundert-
tausend überschritten. Die natürliche Zunahme der Be-
völkerung würde ein solch rapides Anwachsen nicht ermög-
lichen, letzteres ist vielmehr hauptsächlich dem ungeheuren
Zuzug zuzuschreiben. Die natürliche Zunahme — d. i.
das Plus der Geburten über die Sterbefälle — betrug im
Jahre 1881 nur 11000. In dem gedachten Jahre wurden
in Berlin 43.500 Geburten registrirt, darunter 521 Zwil-
lings-, vier Drillings- und sogar eine Vierlingsgeburt.
In vier Fällen ist das zwanzigste Kind in einer Ehe ge-
boren. Im Durchschnitt waren 13'5 aller Geburten in
Berlin außerehelich. Das Alter der Mutter schwankte von
unter fünfzehn (ein Fall) bis über fünfzig Jahre (drei
Fälle). Die Zahl der Eheschließungen betrug im Jahre
1881 nur 11.148. Elf Jünglinge im Alter von 70 Jahren,
darunter zwei, die sogar das ansehnliche Alter von 80
Jahren überschritten, hatten den Muth, sich in das eheliche
Joch spannen zu lassen, und zwei Frauen im Alter von 65
Jahren fanden noch Abnehmer. Ein Mann vermochte es
über sich, zum vierten Male die Ehe einzugehen, und 22
Frauen fanden ihren dritten Mann. — Die Ausdehnung
Berlins nimmt nicht in gleichem Maße zu wie die Be-
völkerung. Die Stadt Berlin bedeckt nur einen Flächen-
raum von 11/10 Quadratmeile; freilich wohnen in Berlin
auch die Menschen dichter zusammen als selbst in Prag,
Neapel, ja sogar Wien. Auf den Bewohner manchen
Grundstücks kommt nur eine halbe Quadratruthe Boden-
fläche, und im Durchschnitt leben auf einem Grundstück in
Berlin nicht weniger als 60·61 Personen gegen 26 in
Paris und gar nur 8 in London. Es ist unter solchen
Umständen nicht zu verwundern, daß Berlin keine sehr ge-
sunde Stadt ist, und daß, wer irgend kann, im Sommer
die brandenburgische Häuserwüste verläßt. Eine charakteri-
stische Neuerung ist die Etablirung eines Sanitäts-Kranken-
Transport-Instituts. Die geräumigen und gut ventilirten
Kranken-Transportwagen sind durch rothe Kreuze kenntlich,
die an den Laternen und den beiden größten Flächenseiten
des Wagens angebracht sind. In jedem Krankenwagen
befindet sich ein bequemer Krankenstuhl, der dem zu trans-
portirenden Kranken jede nur denkbare Lage gestattet. Die
Wagen erster Klasse sind sehr elegant und haben Gummi-
räder; die einmalige Benützung eines solchen Wagens kostet
20 Mark. Die Benützung des Wagens zweiter und dritter
Klasse kostet 10 resp. 7 Mark.
Local- und Bädernachrichten.
(Die gestrigen Nachmittags-Konzerte) hatten
insgesammt durch den kurz vor 4 Uhr niedergegangenen aus-
giebigen Regen mehr oder weniger zu leiden; der geringste
Ausfall mag bei dem Konzerte der bairischen Infanterie-
Kapelle im Pupp'schen Park zu verzeichnen sein, wo in den
geräumigen Veranden immerhin an zwei Tausend Personen
sich zusammengedrängt haben mochten, die erst wagten, die
schützenden Bedachungen zu verlassen, als der blaue Himmel
und die hellen Sonnenstrahlen wieder durch die Baum-
Kronen lachten. Wenn heute die Witterung hübsch bleibt,
wird die Zuhörermenge wohl noch eine größere werden
als gestern — da der Reiz des Ungewohnten, eine fremd-
ländische Militär-Kapelle konzertiren zu hören, seine be-
sondere Anziehungskraft ausübt. — Ueber die Leistungen
der Kapelle, die übrigens gestern vielen Beifall fanden,
haben wir uns schon im Vorjahre, gelegeutlich ihrer dama-
ligen Konzerte ausgesprochen und können wir heute nur
hinzufügen, daß wir gestern dieselbe Präcision und den
gleich hübschen Vortrag beobachteten, wie im Vorjahre. —
Die dominirenden Bässe und die stark vertretenen Holz-
Instrumente kontrastiren vielleicht befremdend, aber nicht
unangenehm mit den Blechharmonien unserer heimischen
Militärmusiken. — Vergleiche lassen sich heute Nachmittag
leicht ziehen, da auch heute wieder die treffliche Philippo-
vicz-Kapelle im Freundschafts-Saale konzertirt, wo-
selbst stets ein aus der Elite der Badegesellschaft sich
rekrutirendes Stammpublikum sich einzufinden pflegt.
(Die Hofschauspieler Sonnenthal und
Robert verlassen heute nach mehrwöchentlichem Kurauf-
enthalte unsere Stadt — mogen freundliche Erinnerungen
an die hier verbrachte Zeit dieselben veranlassen, auch im
nächsten Sommer einige Wochen hier zu verleben als Mit-
telpunkte der in Karlsbad seit einigen Jahren sich immer
vergrößernden Künstler-Kolonie.
(Gastspiel Blasel). Im Sommertheater eröff-
nete gestern Nachmittag ein hier stets freundlich aufge-
nommener Gast, der Komiker Herr Karl Blasel, sein
diesjähriges nur wenige Vorstellungen umfassendes Gast-
spiel, vor einem unter Rücksichtnahme auf die ungünstige
Witterung und die verschiedenen Konzerte gut besucht zu
nennenden Hause, das dem Gaste alle Sympathien entgegen-
brachte. Die Operette „Boccaccio“ gelangte unter recht bei-
fälliger Aufnahme zu guter Wiedergabe. Der Lambertuccio,
durch Herrn Blasel vertreten, nahm natürlich den Löwen-
antheil des Erfolges für sich in Anspruch. Die Titel-
partie ruhte gestern in den Händen des Frl. Hermann,
welche talentirte Darstellerin ihrer Aufgabe sich auf das
Beste zu entledigen wußte. — Auf einige Aufführungen in
den beiden Theatern aus den letzten Tagen hoffen wir in
nächster Nummer zurückkommen und von ihnen manches
Gute verzeichnen zu können.
(In Gießhübl-Puchstein) gelangte am Donners-
tag wieder eine Nummer der Kurliste zur Ausgabe, welche
eine Gesammtsumme von 161 Kurgästen und 10650
Passanten ausweist.
(Marienbad.) Die Saison hat nunmehr ihr bun-
testes Gewand angelegt. Alle Farben, Sprachen, Nationen,
Menschen der verschiedensten Qualität und Quantität aus
allen Landes- und Welttheilen, sind auf diesem kleinen
Flecken Erde versammelt, um während dieser schönen Jahres-
zeit die mehr oder weniger angegriffene Gesundheit zu re-
stauriren. Will man dieses Gewirre im betäubenden Durch-
einander sehen und wahrnehmen, so muß man an einem
Regentage, wie es ihrer jetzt mehrere nach einander gege-
ben, in den Promenadensaal neben dem Kreuzbrunnen
treten, wenn die Kurkapelle sich zum Abendkonzert ver-
sammelt und alle Tonarten menschlicher Sprechweise klingen
wie aus Einem Sprachrohr an unser Gehörorgan. Was
wir aber da zu hören bekommen, das muß von mindestens
100 Personen belauscht werden, um wieder registrirt wer-
den zu können und diese Zahl ist nur approximativ ange-
setzt, da die wirkliche Gruppenmenge eine weit größere ist
und genau gar sich nicht fixiren läßt. Ein großer Theil der
in kleinen Circeln sich bewegenden Menge ist mit der An-
zahl der Becher und der Wirkung derselben beschäftigt und
nähert sich in dieser Beziehung gar sehr den Sitten einer
guten alten Zeit, wo die Ketten der Convenienz noch nicht
so fest angelegt waren und man die Bedürfnisse des Lebens
nicht nur gekannt, sondern auch auszusprechen gewagt hat,
ohne fürchten zu müssen, daß man deshalb das etwas
ästhetische Gefühl des Nachbars unsanft berührt. Doch die
Extreme berühren sich daam meisten; denn während die
Einen den Kreuzbrunn und seine wundervolle Wirkung ins
klare Licht stellen, besprechen die Anderen die kurgemäße
Küche der Restaurants, und jeder von den dabei Betheilig-
ten weiß genau, wo man den besten Braten oder das
feinste Compot bekommt, wie man am billigsten oder am
theuersten speisen kann. Mit eben so lebhaftem Interesse
verhandeln die weiteren Gruppen ihre Themata über die
Kaffeespezialitäten in den diversen Etablissements, über
Ausflüge, Unterhaltungen, Dauer der Anwesenheit, Ein-
käufe und Abreise.
Wie man einem süddentschen Blatte aus Berlin
schreibt, ist es wahrscheinlich, daß Fürst Bismarck in diesem
Jahre Kisfingen überhaupt nicht besucht, sondern den ganzen
Sommer in Friedrichsruhe verlebt. Möglich ist, wie es
heißt, ein Abstecher nach Gastein, doch hängt dies ganz von
dem Befinden des Leidenden ab, der nicht im Leisesten ver-
rathen läßt, durch welche Kur er wieder gesund zu werden
hofft. Die medizinischen Autoritäten haben es längst auf-
gegeben, dem Reichskanzler rathend zur Seite zu stehen, da
er ihnen Mißtrauen entgegenbringt. Er geht wie in wirth-
schaftlichen, so jetzt in medizinischen Dingen, seinen eigenen
Weg und hält sich fest überzeugt, es sei mit der wissen-
schaftlichen Theorie der Medizin gerade so weit her, wie
mit dem Freihandelsprinzip auf dem Gebiete der Volks-
wirthschaft.
(Zollzahlungen im August.) Das Aufgeld bei
Zollzahlungen (Silber gegen Gold) pro August wurde
vom Finanzministerium auf 19 Prozent festgesetzt.
Wiener Börse vom 21. Juli 1883.
Einheitliche Staatsschuld in Noten .
Einheitliche Staatsschuld in Silber ..
Oesterr, Goldrente.
Noten-Rente
Aktien der österr.-ung. Bank .
Kreditaktien
-.........
20 Francs-Stücke
K. k. Münz-Dukaten
Deutsche Reichsbanknoten
London
78.85
79.60
99.40
840*
293.60
120. =
5.66
58.50
(Avis für Damen.) Die seit nahezu vierzig
Jahren in Wien allbekannte Firma Seepold & Comp.
Robes und Confections hat ihre Ateliers von der Grünauer-
gasse nach dem Kärntnerring Nr. 1, Kärntnerstraße
Reicher Lithion- und Bor-Säuerling.
SALWATOE
eisenfreies reinstes diätetisches Wasser, vorzüglich gegen
katharrhalische Affektionen der Athmungs- und Verdau-
ungsorgane, Specificum gegen Gicht-, Blasen- u. Nieren-
leidenauficin Mineralwasserhandlungem und
den meisten Apothesen. Salvator-Quellen-Zirektion
Eperies.
Ein Fräulein
aus gutem Hause, anfangs der zwanziger Jahre,
wünscht sich Verhältnisse halber irgendwie passend
zu placiren. Sie würde sich zur Erziehung kleinerer
Kinder, welchen sie auch den ersten Elementar-
Unterricht ertheilen könnte, oder als Reisebegleiterin
eignen. Ginge auch in's Ausland. — Gefällige Offerte
unter E. R. 100 an die Administration dieses
Blattes erbeten.
Kairo, 21. Juli. Heute wurde der Bahn-
verkehr nach Alexandrien eingestellt.
Eger, 21. Juli. Das Konsortium, das mit
einem Antrage auf Erwerbung sämmtlicher der
Stadt Eger gehörenden Grundstücke, Quellen und
Bäder in Franzensbad an den Stadtrath in Eger
herantrat, besteht aus Berliner Kapitalisten.
Dateiname:
karlsbader-badeblatt-1883-07-22-n72_1550.jp2